Karl-Heinz Herrfurth, Aus dem Vortrag an der HdK 1994: „In Bildern denken“ Noch ein Spiel!
,,In der Mitteilung der Pressestelle der Hochschule der Künste zur Vortragsreihe „In Bildern denken“ steht der Satz: Es ist keineswegs selbstverständlich, daß bildende Künstler/innen – auch wenn sie als Lehrende Kunst vermitteln – über ihre eigene Arbeit sprechen. Dies gilt natürlich auch für mich, und es wäre für mich eine bedrückende Vorstellung, hier über einmalig festgelegte und unverrückbare Standpunkte des Künstlers sprechen zu müssen, an denen seine Kunst gemessen werden kann und die die Künstlerpersönlichkeit mit ihren Eigenarten unver-wechselbar beschreiben. Das entspräche nicht meiner Art. Ich halte es lieber mit einem Motto von O’Neill: „Wer sich festlegt, hört auf, sich weiterzuentwickeln.“
Ersatzweise kann man sich auf die Vorbilder und Beispielgeber, die Ahnen, Freunde und Bekannte aus der Kunstgeschichte berufen, sie mit ihren Werken zitieren und als Gutachter über das eigene Werk aufrufen. Ich habe diese Möglichkeit erwogen, bin aber nicht weit gekommen. Ich dachte dabei zum Beispiel an die berühmte Figur des Leonardo da Vinci nach Vitruv, der Mensch im Erdkreis, der Mensch als Maß aller Dinge. Ist dies ein anerkannter klassischer Standpunkt, so ist der meine wahrscheinlich nur gültig am 25. August 1993 als Ausschnitt aus einem Skizzenblatt vom Nachmittag dieses Tages. Diesen Weg der Vergleiche möchte ich nicht beschreiten, später aber doch meine Zitate anführen. Charakteristisch und nicht zufällig für jede Künstlerinn und jeden Künstler ist das Bildmedium, mit dem sie oder er sich wenigstens zeitweise treffend auszudrücken vermag, und das Vorhaben, das Arbeitsfeld, in dem sie oder er sich zu bewegen lernt. Ob solche Arbeitsfelder zeitgebunden sind, dem Zeitgeschmack, Moden oder Trends unterliegen, wie solche Arbeitsfelder, in denen dann die oben erwähnten Standpunkte stecken mögen, gefunden werden, entstehen, sich entwickeln, ausweiten, aber auch austrocknen, aufgegeben werden, um angrenzende Parzellen zu erschließen, hat immer meine Neugierde erregt. Es ist dies fast schon ein kunstwissenschaftliches Thema, nicht ohne die Kenntnis der Biographien von Künstlerinnen und Künstlern zu belegen, in denen sich oft zeigt, wie aus ersten wagen Ideen und Zufällen, Ahnungen und experimentellen Versuchen künstlerische Konzeptionen entstehen können.
Ich erzähle Ihnen eine sehr persönliche Geschichte, berichte über eines meiner Arbeitsfelder, über die Zeichnung, über das Zeichen und spreche über meine alltägliche Arbeit, das „Hand-Werk“ (es ist auch Kopf-, Augen-, Herz- und Bauch-Werk) in einer Zeit, in der sich das Handwerkliche schon lange in die Kunst hineinbegeben hat. Jahrelang habe ich fast ausschließlich gemalt, Zeichnungen gab es dazu als Skizzen oder Entwürfe, Notizen und Bildanalysen. Themen waren fast immer Figuren, oder ich sage besser: Figurationen und bestimmte Figuration als ein visuell deutlicher, farbig und/ oder linear gegliederter (strukturierter) Gestaltzusammenhang in der Bildfläche, also im Bildgrund. Figurationen können demnach nicht nur aus dem Erlebnis und der Wahrnehmung menschlicher oder tierischer Figur abgeleitet werden, sondern auch aus der Betrachtung anderer Weltaspekte unter Einschluß traditioneller Motive der Malerei, der Landschaft, dem Stilleben, der Architektur, der technischen Umwelt, hervorgehen, und sie müssen sich nicht nur auf die Außenwelt beziehen.
Bei Studienaufenthalten im tiefen Süden Griechenlands konnte ich Malerei nur im verschatteten Atelier und nur während der weniger hellen Tageszeiten, morgens und spätnachmittags, betreiben. Das überhelle, flirrende, alles überstrahlende Sonnenlicht im Freien läßt dort farbiges Arbeiten und die treffende Farbauswahl kaum zu, wohl aber das Zeichnen, das mir auch hier in Deutschland immer wichtiger wurde, weil ich mir Malerei nur auf der Grundlage einer Bildidee, der Form und ihrer Erfindung vorstellen wollte. Bei einem dieser sommerlichen Arbeitsaufenthalte ging leider mein Vorrat an Zeichen- und Malpapier sehr schnell zu Ende. Im Dorfladen gab es nichts Brauchbares zu finden, eine Reise in die nächste Stadt zum Einkaufen blieb erfolglos. In meiner Not griff ich zu alten Briefen, Schulheften und Notizbüchern, die sich in einer Truhe im Haus fanden, beschriftete Seiten in sehr fragilem Zustand. Bei den ersten Versuchen mit diesen Materialien wurden die Schriftnotizen von Übermalungen abgedeckt. Dabei bin ich wohl dem Problem, diese Materialien mit den Eintragungen als historische Informationsquelle und ihre graphisch-malerischen Strukturen als Gestaltungsvorgabe zu vestehen, noch ausgewichen. Ihr Wert war in den folgenden Arbeiten zu begreifen.[…]
In meinen phantasievollen Assoziationen, die einen großen Einfluss auf meine Zeichnerei ausübten, erinnerte ich mich an eine Beschreibung der Athener Agora, die ich irgendwann nebenbei gelesen hatte und fand die Textstelle wieder in dem Buch ,,Die Griechen" von Robert Payne, 1964. Dazu ist zu bemerken, dass die angelsächsischen Archäologen und Historiographen sich sehr um die Aufklärung der Lebensumstände des Volkes, Gewerbe und Handel der einfachen Leute, Sitten und Gebräuche bemühen. Payne schreibt über die Agora in Athen nach den Perserkriegen, in einem Zustand des Wiederaufbaus der Stadt nach fast vollständiger Zerstörung:,,Alle Berichte stimmen darin überein, dass es einen Platz gab, der an Lärm alles andere Übertraf. Es war die agora, wo die Athener täglich bis Mittag ihren Markt abhielten. [...] Die Fischhändlerund die Myrtenverkäufer noch übertönend aber war die schreckliche Stimme des Herolds, der die Räumung des Marktplatzes anzuordnen pflegte, so dass jedermann der Volksversammlung auf dem gegenüberliegenden Hügel, der Pnyx, beiwohnen konnte. Hierauf wurde das lange, in frische rote Farbe getauchte Seil über den Marktplatz hin- und hergefegt. Jeder, der nun in den Straßen Athens mit einem roten Farbfleck angetroffen wurde, musste wegen Fernbleibens von der Volksversammlung eine Strafe auf sich nehmen (Payne 271).
Ein faszinierender Griff in die Fülle des Lebens, voller Bilder und Anregungen. Die roten Farbflecke waren wie ein Echo auf meine vorangegangenen Bemühungen in der Malerei, die Farbe von ihrer Funktion der Körperfarbe, der Dingfarbe und der Gegenstandsbeschreibung abzulösen, sie als Farbmal, Farbzeichen, Kennzeichen, als Schmerzfarbe und Freudenfarbe neu zu finden, nicht als Illumination oder Beleuchtungslicht, sondern als punktuell oder flächig ausstrahlendes Sendelicht zu begreifen.
Zurück zu meinen Zeichengründen: Den Kassenbüchern, Briefen, Briefumschlägen, Schulheften folgten Inventarbücher, Poesiealben, Arbeitsbücher von Handwerkern und ausgefüllte Formulare, die ich hier bei Trödlern fand. Weil sie teilweise im Zustand des Zerfalls waren, mußte ich die Seiten auf Papier aufziehen und konnte sie so auch in Serien und Reihen setzen. Ihre visuellen und materiellen Eigenschaften waren: verschiedene Formen und Formate, unterschiedliche Oberflächenbeschaffenheiten, Linierungen horizontal und vertikal, Rasterungen, Beschriftungen als Buchstaben, Ziffern, Überschriften, Zeilen und Signaturen, unterschiedliche Anordnungen dieser graphischen Bestände, Verdichtungen durch Überschreibungen und Anhäufungen, Ausgestrichenes und Getilgtes, Auslassungen und Fehlstellen, Aufgeklebtes und Repariertes, Steuermarken und auf den Umschlägen Siegelwachs, Briefmarken und Stempel, Eselsohren, Knickungen, Risse, Abrisse, Abschürfungen durch intensiven Gebrauch, Wasserflecken, Rost- und Stockflecken, Löcher und andere Beschädigungen durch Wurm- und Insektenfraß, Durchfärbungen, Vergilbung.
In diese teils normativen (Linierung, Schrift, Ziffern), teils zufälligen Bestände (Flecke, Risse, Färbungen), von ihnen angeregt und mit ihnen spielend meine Figurationen einzutragen, hineinzusehen und hineinzufabulieren, den angegebenen Geschichten meine eigenen aufzudrücken, das Vorgefundene mitwirken zu lassen als Fülle des Bildgrundes oder es als „Hintergrundrauschen“ in kleinen Mengen sich ausdrücken zu lassen, machte den Reiz dieser Materialien und auch eine Verpflichtung ihnen gegenüber aus. Der Ausdruck der Blätter liegt deshalb immer zwischen den Polen Fülle, Ausgefülltsein, Besetztsein und Knappheit, Kürze, Fragment. Es gibt viele Einzelblätter. Jedoch führt die dichte Folge der Arbeiten zu Varianten und Variationen, Gruppen und Serien, die Inventionen ergänzen sich nacheinander und nebeneinander und umkreisen ihre Bildthemata.
In einer längeren Arbeitsphase des Zeichnens breiten sich im Atelier die Zeichnungen auf Fußböden, Tisch und Stühlen aus, überziehen die Wände, ergänzen sich zu Serien ähnlicher Bildvorstellungen und ähnlicher Werkverfahren. Eine Zeichnung lockt die nächste hervor, und das Bewußtsein des Zeichners in einer solchen Bilderhäufung schärft sich, denn er zeichnet doch immer sich selbst, seine Ahnungen, seine Wünsche und Befindlichkeiten mit, vergleicht, prüft und läßt sich überraschen.
Der innere Monolog führt zu einer zwingenden Einsicht, daß die gefundenen Zeichen zu dem stetig fließenden Strom von Zeichnungen, Ritzungen, Tätowierungen, Kerbungen usw. gehören, Milliarden wahrscheinlich, viele verloren, die seit Beginn der Menschheitsgeschichte gemacht worden sind, ihnen ähnlich, sie ergänzend, mit ihnen verwandt oder auch den eigenen Platz einnehmend, polemisch und karikierend. Die Einsamkeit des Zeichners ist beendet.
Am Ufer dieses Stromes sitzen nicht nur Zeitgenossen, sondern auch Gleichgesinnte aus anderen Epochen und Regionen: Dort drüben der Mönch aus einem klösterlichen Scriptorium, mit seinen Grotesken am Rande einer Codexseite beschäftigt, gegenüber die Sippe eines Stammes, die mit eingerührtem Kalk die weißen Bilder ihrer Ahnengeister an der überhängenden Felsklippe auffrischt, hier die Frau, die mit einem Holzstück ihrem handgeformten Tontopf einfache Zeichnungen einprägt, daneben der Schildermaler, der aus Schrift und Bild das Ladenschild einer Putzmacherin komponiert, in der Nähe das Kind, spielerisch versunken in das Entstehen eines Kopffüßlers. Halten Sie meine Aufzählungen bitte nicht für übertrieben. Sie skizzieren mein Bewußtsein von langandauernden Zügen in der Kunst- und Kulturgeschichte, mein Traditionsbewußtsein. Wer den Begriff „Tradition“ etwa mit „abgestanden, verbraucht, reaktionär, konservativ“ besetzt, möchte vergessen, daß alle künstlerischen Erfindungen weit zurückliegende Wurzeln haben, Tradition also als Positivum zu sehen ist. T. S. Elliot bemerkt: „Nichts, was nicht in der Grundlage traditionell ist, kann wirklich neu sein.“ Oder der französische Philosoph Jean Jaurés: „Tradition heißt nicht, Asche zu verwahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten.“ Eine andere bedeutende Quelle zu diesem Thema „Künste und Traditionen“ ist das Werk Walter Benjamins, dessen Lektüre ich empfehle.
Ich habe über meine Faszination gesprochen und erweitere meine Betrachtungen. Eine Überlieferung aus der Antike berichtet uns vom Ursprung der Zeichnung Folgendes: Eine junge Frau muss von ihrem Geliebten, der in den Krieg zieht, schmerzvoll Abschied nehmen. Um seine Gestalt nicht zu vergessen, zeichnet sie mit einem Stück Kohle den Umriss seines Schattens auf der Mauer, an der beide stehen, nach, bevor er geht. Nun, eine große Ähnlichkeit mit dem Geliebten, kann der von ihr bewahrte Umriss eines schräg auf eine Mauer fallenden Schattens nicht gehabt haben und doch muss er genügt haben, um ihrer Sehnsucht und Erinnerung einen Halt zu geben. Folge ich nachdenklich dieser Begebenheit, so fallen mir drei Merkmale auf:
1. Das Zeichnen birgt tiefste Seelen- und Leibesempfindungen.
2. Es ist spontan und bedarf nur der geringsten elementaren Mittel.
3. Es bildet nicht ab, sondern sucht Bilder. Zweifellos ist dieser Umriss auf der Mauer ein Bild.
Nehme ich einmal alle Zeichnungen aus, die mit der Darstellung der objektiven Welt befasst sind, die Zeichnungen der Entwerfer, Architekten und Ingenieure, die Pläne, Maßzeichnungen, Konstruktionszeichnungen, Diagramme, Messblätter, dazu die Werkzeichnungen und Skizzen zur Klärung der Werkvorhaben bildender Künstler, die nicht eigentlich bildhaften Charakter haben, so finde ich meine drei Merkmale in den Bildern der Zeichnenden aus allen Zeiten wieder. Ich finde sie auch in den Äußerungen der Künstler und Kenner wieder, die ich treffender nicht zu formulieren vermag.
Henri Matisse: „Ich habe die Zeichnung nie als eine besondere Geschicklichkeitsübung betrachtet, sondern stets als ein Mittel, um mehr Einfachheit zu geben. Ausdruck vom Ursprung her, der ohne Schwere unmittelbar in den Geist des Betrachters eingeht.“
Henri Matisse: ,,In der Zeichung hat das Wesen der Linie allein auszukommen mit dem großen Komplex des Individuellen und Allgemeinen, Zufälligen und Momentanen, Stofflichen, Farblichen und Räumlichen. Sie hat alle Wesenseinheiten, Formbestandteile und Formkennzeichen zu vermitteln. Sie kann die Körper nur umreißen und mit Innenzeichnung versehen. Das Auslasssen wird zur Forderung. In der leicht fließenden Auswahl des Wesentlichen, das nicht allein den Schein der Wirklichkeit, sondern auch des Künstlers Erleben enthält, liegt die freie Abwicklung aller Genialität und der Charakter jeder künstlerischen Zeichnung."
Johann Wolfgang von Goethe (vor fast 200 Jahren) auf seiner italienischen Reise: ..Was ich nicht gezeichnet habe, habe ich nicht gesehen!" ,,Nicht gesehen" bedeutet bei Goethe auch ,,nicht erlebt, nicht empfunden, nicht angeeignet." Ich fand viele ähnliche Aussagen und mein Notizbuch füllt sich. Dazu gehören auch Bemerkungen über den Primat der Zeichnung über andere Bildmedien.
Giacometti: „Wir müssen uns ausschließlich um die Zeichnung bemühen. Wenn man die Zeichnung auch nur wenig beherrscht, wird alles andere möglich.“
Enzo Cucchi: „Entweder ist sie sofort da oder sie hat keine Augen, dann wirft man sie weg, oder zerreißt sie. Ein Bild kann man immer wieder überarbeiten, die Materialien helfen einem dabei. Eine Zeichnung dagegen ist schwierig, sie ist wie ein lebendes Tier unter den Händen des Malers.“
Pierre Bonnard: ,, Zeichnung ist Empfindung, Farbe ist Vernunft,"
Max Friedländer: „Zeichnen ist in höherem Grade als Malen ein Wählen, Entscheiden, Auslassen, ein geistiges Eingreifen, deshalb als unmittelbare, persönliche, intime Äußerung der Individualität unschätzbar.“
Eine Kurzfassung meiner Einsichten lautet so (sehr viel trockener als die von mir zitierten): Das Zeichnen ist ein spontaner Werkvorgang mit den abstraktesten der Bindemittel, der Linie, der Kritzelspur, dem graphischen Fleck, sparsam, aber nicht ärmlich. Es kann und darf fragmentarisch sein, weil das Zeichnen die Kunst der Andeutung und der Abkürzung ist. Thema der Zeichnung ist auch immer das Zeichnen selbst, das Mitzeichnen des Zeichenvorganges in seinen Zügen als Bewegungs- , Denk- und Empfindungsvorgang.
Das Physiogramm (Bewegung und Zupacken der Linien, Umschreiben und Festlegen) und das Psychogramm (Imagination, Bildvorstellung und Bildsuche) finden sich in einer Konstellation wieder. Das verwendete Zeichenmaterial ist nicht das Wichtigste, obwohl es Eigenarten hinzutut. So können wir eine Rohrfederzeichnung von Rembrandt direkt neben eine Bleistiftzeichnung von Picasso oder eine Kohlezeichnung von Matisse legen und erkennen sofort, haben wir die offenen Augen dafür, den hohen Rang der Autoren trotz unterschiedlicher Temperamente und unterschiedlichen Gebrauchs der Mittel, und wir erkennen die Intensität und Klarheit ihrer Empfindungen und Erfindungen. Nicht das Was des Bildgegenstandes, sondern das Wie der Bildsprache ergreift uns."
Karl-Heinz Herrfurth, Vortrag vom 03.02.1994